Erfolgreich rekrutieren durch echte Kandidatenbindung
Manchmal müssen wir ehrlich sein: Nicht immer liegt es an den Bewerbern, wenn ein Gespräch nicht gut verläuft. Oft gerät auch das Interview selbst aus dem Gleichgewicht. Viele Kunden betrachten das Vorstellungsgespräch als einseitige Prüfung, bei der allein der Kandidat überzeugen muss. Dabei wird häufig übersehen, dass auch wir als Interviewer eine zentrale Verantwortung tragen – nämlich den Rahmen so zu gestalten, dass der Bewerber sein Potenzial überhaupt zeigen kann.
Eine konsequente Neuausrichtung des Gesprächsprozesses kann für deutlich mehr Klarheit sorgen – nicht nur für den Bewerber, sondern auch für uns als Interviewer. Wie oft merken wir nach 20 Minuten, dass das Gespräch stockt oder die Chemie nicht stimmt? In solchen Fällen liegt es nicht immer an der mangelnden Vorbereitung des Kandidaten, sondern häufig auch daran, dass wir selbst keinen klaren Rahmen vorgegeben haben.
Im Folgenden finden Sie die zehn wichtigsten Aspekte, die bei Bewerbungsgesprächen zu beachten sind – unabhängig von der Hierarchieebene der Position. Sie basieren ausschließlich auf unseren eigenen Erfahrungen und Beobachtungen – sowohl aus der Perspektive von Kandidaten als auch aus unserer langjährigen Tätigkeit als Berater, die zahlreiche dieser Gespräche begleitet haben.
1. Kein klassisches Interview – sondern ein Dialog auf Augenhöhe
Der erste notwendige Perspektivwechsel besteht darin, zu erkennen: Der Kandidat kommt nicht zu einem klassischen Vorstellungsgespräch, sondern begibt sich auf ein Gespräch auf Augenhöhe. In den meisten Fällen wurde er aktiv von einer Personalberatung angesprochen und ist mit seiner aktuellen Position durchaus zufrieden. Das bedeutet: Er betritt den Raum nicht mit dem Ziel, sich beweisen zu müssen – sondern mit der Offenheit, zu prüfen, ob ein beiderseitiges Interesse besteht. Die Verantwortung, zu überzeugen, liegt daher auf beiden Seiten – beim Unternehmen ebenso wie beim Kandidaten.
Ein entscheidender Schritt, um von Anfang an den richtigen Ton zu treffen, ist eine überzeugende Einführung. In den ersten 15 Minuten sollte das Unternehmen – also mein Kunde – die Gelegenheit nutzen, sich selbst attraktiv zu präsentieren: Wer sind wir? Welche Rolle bieten wir an? Was ist unsere Vision, unsere Kultur und unser Ziel? Natürlich ist es nicht einfach, all das in einem kompakten 15-minütigen „Elevator Pitch“ unterzubringen, doch genau dieser Teil des Gesprächs ist essenziell. Leider vergeuden viele Kunden diese Chance, indem sie sich mit einer überhasteten 3-Minuten-Einleitung begnügen und direkt in den klassischen Interviewmodus wechseln. Doch so entsteht kein echtes Interesse – im Gegenteil: Gute Kandidaten könnten schnell das Interesse verlieren.
2. Eine klare Struktur vorgeben und den Prozess aktiv steuern
Im weiteren Verlauf des Gesprächs ist es entscheidend, eine klare Struktur vorzugeben und den Kandidaten aktiv durch den Prozess zu führen. Was bedeutet das konkret? Wir müssen klare Erwartungen und zeitliche Rahmen setzen – etwa ein Zeitfenster von 20 Minuten für die Vorstellung des beruflichen Werdegangs. Ebenso wichtig ist es jedoch, deutlich zu kommunizieren, worauf wir dabei besonders achten: Welche Aspekte sind für uns relevant? Welche Stationen sollen vertieft dargestellt werden? Nur so stellen wir sicher, dass die Antworten zielführend und vergleichbar sind.
In diesem Fall sollte der Kandidat eine klare Anweisung erhalten – zum Beispiel, sich ausschließlich auf seine beiden letzten Positionen oder Mandate zu konzentrieren. Dabei soll er detailliert darlegen, welche Aufgaben er in diesen Rollen übernommen hat, vor welchen konkreten Herausforderungen er stand, wie er diese gelöst hat – und vor allem, welche Erkenntnisse und Schlussfolgerungen er daraus gezogen hat. Der Fokus liegt hier auf Tiefe statt Breite: Es geht nicht um einen lückenlosen Lebenslauf, sondern um echtes Verständnis und reflektierte Erfahrungen.
Was viele Kunden nicht bedenken: Unterschiedliche Bewerber benötigen unterschiedlich viel Zeit für die erste Phase des Gesprächs – was die Vergleichbarkeit erschwert. Diese Unterschiede sind meist auf individuelle Persönlichkeitsmerkmale zurückzuführen. Manche Kandidaten sind kommunikativ und erzählen ausführlicher, andere halten sich eher zurück. Das hat nichts mit ihrer fachlichen Kompetenz zu tun, sondern spiegelt lediglich ihren persönlichen Stil wider – und genau das gilt es zu berücksichtigen.
Dem können wir entgegenwirken, indem wir einen klar strukturierten Gesprächsablauf vorgeben und von Anfang an deutlich machen, worauf wir den Fokus legen. Hält sich der Kandidat nicht an diese Leitlinien oder geht nicht auf die gewünschten Details ein, ist das bereits ein wertvoller Hinweis für uns. In jedem Fall schaffen wir so Klarheit über unsere Erwartungen – und ermöglichen damit eine bessere Vergleichbarkeit.
3. Gezielte Fragen vorbereiten, um die Eignung des Bewerbers zu beurteilen
Nachdem sich das Unternehmen angemessen präsentiert hat und der Bewerber seinen Werdegang vorgestellt hat, sind in der Regel bereits 30 bis 45 Minuten vergangen. Nun gilt es, die verbleibende Gesprächszeit gezielt zu nutzen, um die Eignung des Kandidaten für die Position anhand konkreter Fragen zu prüfen. Diese Fragen sollten nicht spontan oder aus dem Moment heraus entstehen, sondern im Vorfeld sorgfältig geplant und auf die Anforderungen der Rolle abgestimmt sein. Nur so lässt sich eine fundierte und faire Beurteilung treffen.
Ein professioneller Beratungsprozess umfasst auch, dass wir als Beratung unserem Kunden gezielte Fragen vorschlagen – basierend auf dem Kompetenzprofil, das uns zur Verfügung gestellt wurde. Doch wir gehen einen Schritt weiter: Wir empfehlen, dass der Berater diese Fragen im Gespräch selbst stellt. So kann sich der Kunde ganz auf die Antworten konzentrieren, Notizen machen und jede Antwort gezielt bewerten. Das schafft nicht nur Struktur, sondern sorgt auch dafür, dass die Beurteilung nachvollziehbar und messbar bleibt.
Ein möglicher Ansatz besteht darin, im Vorfeld zehn zentrale Fragen festzulegen, mit deren Hilfe sich die Eignung des Bewerbers als Führungskraft gezielt prüfen lässt. Diese Fragen lassen sich in drei zentrale Themenbereiche gliedern: erstens Fragen zum Führungsverhalten, zweitens leistungsbezogene Fragen und drittens Fragen zur kulturellen Passung. Innerhalb dieser Bereiche empfiehlt es sich, sowohl verhaltensbezogene als auch situationsorientierte Fragen zu stellen – um ein möglichst differenziertes Bild zu gewinnen.
Allen Bewerbern sollten dieselben Fragen gestellt werden, um Konsistenz und Vergleichbarkeit sicherzustellen. Zur Bewertung schlagen wir ein Punktesystem auf einer Skala von 1 bis 10 vor – wobei 1 für eine schwache und 10 für eine herausragende Antwort steht. Um eine faire und objektive Einschätzung zu ermöglichen, sollten wir vor dem Gespräch gemeinsam definieren, was jeweils als “schlecht” oder “ausgezeichnet” gilt. Diese Vorbereitung erfordert zwar etwas Zeit, sorgt aber im weiteren Verlauf für deutlich mehr Klarheit, Effizienz und Vergleichbarkeit.
4. Die aktive Rolle des Beraters anerkennen
Es ist ausdrücklich zu empfehlen, die aktive Rolle des Beraters nicht nur zu akzeptieren, sondern gezielt zu nutzen. Wenn ich als Kunde bereit bin, einen fünf- oder gar sechsstelligen Betrag für eine Einstellung zu investieren – und der Berater bringt sich engagiert in den Prozess ein – dann sollte ich auch seine Erfahrung nutzen. Schließlich arbeiten Sie mit jemandem zusammen, der seit Jahrzehnten nichts anderes macht, als die richtigen Menschen für Schlüsselpositionen zu finden. Diese Expertise ist ein zentraler Mehrwert – und sollte entsprechend in Anspruch genommen werden.
Kunden sollten sich ermutigt fühlen, ihren Berater aktiv in den Prozess einzubeziehen. Ein guter Berater begrüßt es, wenn sein Kunde anspruchsvoll ist und den Interviewprozess mit der nötigen Ernsthaftigkeit verfolgt – denn genau daraus entsteht eine partnerschaftliche und erfolgreiche Zusammenarbeit.
Ich würde sogar so weit gehen, zu empfehlen, dass der Berater im Vorstellungsgespräch selbst eine aktivere Rolle übernimmt – nicht durchgängig, aber zumindest im dritten Abschnitt des Gesprächs, wie oben beschrieben. Gerade in dieser Phase kann der Berater gezielt moderieren, vertiefende Fragen stellen und dabei helfen, die Gesprächsführung strukturiert und objektiv zu gestalten.
5. Priorisieren Sie offene Fragen
Einer der zentralen Erfolgsfaktoren in einem strukturierten Interview ist der gezielte Einsatz offener Fragen. In einem gut vorbereiteten Gespräch sind die Fragen meist im Voraus definiert – sie können flexibel formuliert werden, folgen jedoch einer klaren Struktur. Offene Fragen spielen dabei eine entscheidende Rolle: Sie geben dem Kandidaten den nötigen Raum, um reflektierte, tiefgehende Antworten zu geben – und ermöglichen es uns, echte Einblicke in Denkweise, Motivation und Erfahrung zu gewinnen.
Was meine ich mit „offenem Ende“? Eine geschlossene Frage könnte zum Beispiel lauten: „Sind X und Y der Grund, warum Sie das Unternehmen ABC verlassen haben?“ – sie lädt zu einer einfachen Ja- oder Nein-Antwort ein. Eine offene Frage hingegen könnte lauten: „Welche Gründe haben Sie dazu bewegt, das Unternehmen ABC zu verlassen?“ Diese Formulierung fordert den Bewerber auf, ausführlicher zu antworten, seine Überlegungen darzulegen – und eröffnet die Möglichkeit, gezielt nachzuhaken und tiefer in relevante Themen einzusteigen.
Es ist ebenso wichtig zu verstehen, dass es völlig legitim ist, eine Frage mehr als einmal zu stellen – möglicherweise in leicht veränderter Formulierung. Wiederholungen können ein bewusst eingesetztes Stilmittel sein, um die Konsistenz und Reflexionsfähigkeit des Bewerbers zu testen. Wird dieselbe Frage ein zweites oder drittes Mal gestellt, zeigt sich, ob der Kandidat bei seiner Darstellung bleibt, Widersprüche entstehen – oder ob er beim erneuten Nachdenken neue, relevante Aspekte ergänzt. Auch das liefert wertvolle Einblicke in Denkweise, Authentizität und Selbstreflexion.
6. Klare Erwartungen beim Stellen von Fragen kommunizieren
Ein weiterer wichtiger Aspekt: Es ist völlig legitim – und sogar empfehlenswert – dem Bewerber im Gespräch Ihre Erwartungen klar mitzuteilen. Wenn Sie eine Frage stellen, sollten Sie deutlich machen, welchen Umfang oder Fokus Sie sich von der Antwort wünschen. Stellen Sie sich vor, Sie bitten um einen kurzen Einblick in den Werdegang, erwarten eine drei- bis fünfminütige Antwort – und der Kandidat spricht 15 Minuten lang. In so einem Fall ist es nicht fair, ihn im Nachhinein dafür zu bewerten, ohne dass Sie im Vorfeld klare Grenzen gesetzt haben. Gute Gesprächsführung bedeutet auch, Erwartungen transparent zu machen – das schafft Struktur, Klarheit und Fairness auf beiden Seiten.
Als Interviewer tragen wir die Verantwortung, das Gespräch aktiv zu moderieren und gezielt zu steuern. Dazu gehört auch, offene Fragen klar zu formulieren und den gewünschten Rahmen vorzugeben. Ein Beispiel: „Ich interessiere mich besonders für diesen Abschnitt Ihrer Karriere, möchte Sie aber bitten, sich zunächst kurz zu halten. Geben Sie mir bitte einen groben Überblick darüber, wie Sie diese Herausforderung bewältigt haben – auf die Details können wir später noch eingehen. Mir geht es zunächst um das große Ganze.“
Solche Hinweise helfen nicht nur dabei, das Gespräch in eine klare Richtung zu lenken, sondern geben dem Kandidaten auch Orientierung und Sicherheit.
Ohne einen klaren Rahmen zu setzen, lassen wir den Bewerber im Unklaren über die Bedeutung und Tiefe einzelner Fragen. Er kann nicht einschätzen, ob eine Frage zentral oder eher nebensächlich ist – was leicht zu Missverständnissen führt. In virtuellen Interviews, etwa per Video, wird dieses Problem noch verstärkt: Bewerber können kaum auf nonverbale Signale reagieren, die ihnen sonst Orientierung geben würden. Viele soziale Hinweise, wie Mimik oder Körpersprache, die im persönlichen Gespräch deutlich wahrnehmbar sind, fehlen in der digitalen Umgebung. Umso wichtiger ist es, klare Erwartungen zu formulieren und den Gesprächsverlauf transparent zu gestalten – das schafft Sicherheit und verbessert die Gesprächsqualität deutlich.
7. Reale Geschäftsszenarien in Interviewfragen einbeziehen
Es spricht absolut nichts dagegen, reale und aktuelle geschäftliche Herausforderungen in Ihre Interviewfragen zu integrieren. Im Gegenteil: Es kann äußerst aufschlussreich sein, einen Bewerber mit einem konkreten Problem zu konfrontieren, das Ihr Unternehmen derzeit beschäftigt – und ihn um seine Einschätzung oder Lösungsansätze zu bitten. So gewinnen Sie nicht nur einen Eindruck von der Denkweise und Herangehensweise des Kandidaten, sondern erhalten zugleich Impulse, die für Ihre Organisation wertvoll sein können.
Ein mögliches Beispiel für eine praxisnahe Frage könnte lauten: „Sie sind seit 15 Jahren CFO, und wir stehen aktuell vor einer besonderen Herausforderung. Sind Sie in Ihrer Laufbahn schon einmal mit einer ähnlichen Situation konfrontiert worden? Wie würden Sie uns als CFO in dieser Lage unterstützen? Welchen Rat würden Sie mir geben, und wie könnten wir gemeinsam an einer Lösung arbeiten? Bitte geben Sie eine kurze, fünfminütige Zusammenfassung auf strategischer Ebene – und beziehen Sie dabei unsere Vision und Unternehmenskultur mit ein.“
Solche Fragen sind von unschätzbarem Wert. Sie geben nicht nur Aufschluss über die Problemlösungskompetenz des Bewerbers und seine potenzielle Passung zur Unternehmenskultur, sondern liefern auch praxisnahe Erkenntnisse. Darüber hinaus werden Sie vermutlich fünf unterschiedliche Perspektiven von fünf verschiedenen Kandidaten erhalten – und genau darin liegt der Reiz. Mit etwas Vorbereitung kann die Einbindung realer, relevanter Szenarien im Gespräch eine Fülle an verwertbaren Informationen zutage fördern, die weit über klassische Interviewfragen hinausgehen.
8. Charisma ist der Schlüssel ... für beide Seiten
Bewerber wechseln den Job nicht ausschließlich wegen des Gehalts. Natürlich ist Geld ein wichtiger Faktor – wir leben nun einmal in einer wirtschaftlich geprägten Welt, und alles andere zu behaupten wäre unrealistisch. Doch ebenso entscheidend ist die Aussicht, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die Charisma, Energie und Positivität ausstrahlen. Für viele Kandidaten ist genau diese zwischenmenschliche Qualität der ausschlaggebende Grund, sich für ein Unternehmen zu entscheiden – oft sogar wichtiger als das letzte Prozent beim Gehalt.
Wir wollen mit Menschen zusammenarbeiten, die bei uns einen positiven Eindruck hinterlassen – eine Resonanz erzeugen, die weit über fachliche Qualifikationen hinausgeht. Wenn ich als Kunde ein Videointerview führe und das Gefühl habe, vor Gericht zu sitzen – ernst, distanziert, ohne jede Wärme oder Ausstrahlung – dann darf ich nicht erwarten, dass der Kandidat aufblüht oder sein volles Potenzial zeigt. So funktioniert zwischenmenschliche Wirkung nicht. Wer Offenheit und Begeisterung sehen will, muss selbst auch genau das ausstrahlen.
Die Realität ist – und das sage ich mit über zehn Jahren Erfahrung – nur wenige Menschen verfügen tatsächlich über Charisma. Viele Führungskräfte sind äußerst kompetent, einige sogar herausragend, doch sie wirken in Gesprächen eher nüchtern und wenig inspirierend. Und genau das ist entscheidend: Die Gesprächsrunde muss nicht zwangsläufig nur aus den ranghöchsten Personen bestehen. Viel wichtiger ist, dass diejenigen am Tisch sitzen, die ein gutes Gespür für Menschen mitbringen und in der Lage sind, das Potenzial hinter einer zurückhaltenden Fassade zu erkennen.
Manchmal lohnt es sich, jemanden in die Gesprächsrunde einzubeziehen, der positive Energie ausstrahlt und authentisch vermittelt, dass Ihr Unternehmen von großartigen, dynamischen Persönlichkeiten geprägt ist. Es geht darum, dem Kandidaten ein Gefühl für die Atmosphäre am Arbeitsplatz zu geben – ein Umfeld, das nicht nur von Hierarchien und Ernsthaftigkeit bestimmt ist, sondern auch von Lebendigkeit, Teamgeist und Begeisterung.
Auch als Interviewer bin ich gefordert, Charisma in den Raum zu bringen. Erzählen Sie eine Geschichte, machen Sie einen lockeren Kommentar, schaffen Sie eine Atmosphäre, in der der Kandidat mehr zeigt als nur Stichpunkte aus dem Lebenslauf. Wenn wir erwarten, dass sich Bewerber von ihrer besten Seite zeigen, müssen wir auch ein Umfeld schaffen, in dem sie genau das können – authentisch, offen und selbstbewusst. Und wenn ein Unternehmen merkt, dass das nicht gelingt, sollte es kritisch hinterfragen, ob die Zusammensetzung des Interviewpanels die richtige ist.
9. Jeden Kandidaten mindestens zweimal treffen – wirklich? Ja, wirklich!
Ja, Sie haben richtig gelesen: Treffen Sie jeden Bewerber mindestens zweimal. Warum? Weil wir Menschen sind – mit guten und weniger guten Tagen. An einem Tag sind wir voller Energie, am nächsten vielleicht zurückhaltend oder nicht ganz bei uns. Wenn Sie einen Kandidaten nur in einem einzigen 60- bis 90-minütigen Gespräch erleben, erkennen Sie vielleicht, ob er ein klares „No-No-Go“ ist – aber Sie werden kaum einschätzen können, ob hinter einer mittelmäßigen ersten Begegnung nicht doch das Potenzial für eine exzellente Besetzung steckt. Ein zweites Gespräch schafft Perspektive, Fairness und eine deutlich bessere Entscheidungsgrundlage.
Dasselbe Prinzip gilt auch für das Interviewpanel. Denn auch die Mitglieder des Gremiums sind Menschen – mit all den kleinen und großen Störfaktoren des Alltags: ein nicht anspringendes Auto, eine vergessene Steuererklärung oder persönliche Belastungen wie familiäre Konflikte. All das kann die Wahrnehmung an einem bestimmten Tag unbewusst beeinflussen. Indem wir Bewerber mehrfach und aus verschiedenen Perspektiven erleben, reduzieren wir genau diesen Effekt – und schaffen eine fundiertere, objektivere Entscheidungsbasis.
10. Der wichtigste Punkt: Ihre Wahrnehmung wird Sie täuschen!
Dies ist mit Abstand der wichtigste Punkt, den ich immer wieder betonen muss: Unsere Wahrnehmung täuscht uns – häufiger, als wir glauben. Wir alle bringen Erfahrungen, unbewusste Vorurteile und emotionale Prägungen mit in ein Gespräch. Kein Mensch ist davon ausgenommen – auch nicht der CEO, der in seiner Karriere schon 2.500 Interviews geführt hat. Selbst die größte Erfahrung schützt nicht vor Fehleinschätzungen. Genau deshalb brauchen wir strukturierte Prozesse, verschiedene Perspektiven und einen klaren Rahmen, um fundierte Entscheidungen zu treffen.
Warum? Weil ein Bewerber sie unbewusst an jemanden erinnert – vielleicht an den tyrannischen Lehrer aus der Schulzeit oder an einen früheren Konkurrenten, der ihnen einst eine Position weggeschnappt hat. Solche Assoziationen laufen oft unterbewusst ab, beeinflussen aber unsere Wahrnehmung erheblich – und verzerren damit das Urteil über den Kandidaten, ohne dass wir es merken.
Genau deshalb ist es entscheidend, die oben genannten Grundsätze konsequent umzusetzen und den Interviewprozess strukturiert aufzubauen. Je mehr Klarheit und Systematik Sie in den Ablauf bringen, desto stärker reduzieren Sie die Auswirkungen von subjektiven Vorurteilen und verzerrter Wahrnehmung. Struktur schafft Vergleichbarkeit, minimiert Zufälligkeit und lenkt den Fokus auf das, was wirklich zählt: die fachliche und persönliche Eignung des Kandidaten.
Und falls Sie noch immer Zweifel haben, empfehle ich Ihnen die Lektüre von Thinking, Fast and Slow von Daniel Kahneman. Dieses Buch ist eine Fundgrube wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse darüber, wie trügerisch unsere Wahrnehmung oft ist – selbst bei scheinbar objektiven Entscheidungen. Wer es gelesen hat, versteht nicht nur sich selbst besser, sondern erkennt auch, wie tief verwurzelt unsere kognitiven Verzerrungen sind – und wie stark sie unser Urteilsvermögen beeinflussen können. Genau deshalb müssen wir ständig daran arbeiten, diese unbewussten Einflüsse zu erkennen und auszugleichen.
Zusammenfassung: Der wichtigste Erfolgsfaktor liegt in der engen Zusammenarbeit mit Ihrem Berater – und in der Erwartung, dass er eine aktive Rolle im gesamten Auswahlprozess übernimmt. Dazu zählen zentrale Aufgaben wie die Strukturierung der Fragen, die Moderation der Gespräche sowie die Entwicklung einer klaren Agenda, die den Kandidaten im Vorfeld transparent kommuniziert wird. Das Fachwissen des Beraters in diesen Bereichen ist ein entscheidender Mehrwert – und sollte bewusst genutzt werden, um den Prozess zielgerichtet, strukturiert und erfolgreich zu gestalten.
Gleichzeitig ist es wichtig, als Kunde mit einer gewissen Bescheidenheit in den Prozess zu gehen – und anzuerkennen, dass wir alle Menschen sind und damit auch anfällig für Fehler, insbesondere in Wahrnehmung und Entscheidungsfindung. Unabhängig von unserer Erfahrung sind wir nicht immun gegen Voreingenommenheit oder Fehleinschätzungen. Genau deshalb ist ein strukturierter, methodisch geführter Auswahlprozess so entscheidend – denn er hilft, diese menschlichen Verzerrungen zu minimieren und fundierte, objektive Entscheidungen zu treffen.
Ich erlebe es immer wieder: Viele Führungskräfte bringen ein enormes Selbstvertrauen mit, wenn es um Personalentscheidungen geht – ein Selbstvertrauen, das man in kaum einem anderen Bereich in dieser Form findet. Doch genau hier liegt die Gefahr. Diese Selbstüberschätzung kann dazu führen, dass Warnsignale übersehen, Prozesse abgekürzt oder Bauchentscheidungen überbewertet werden. Und das kann teuer werden – nicht nur finanziell, sondern auch strategisch und kulturell.
Ein strukturierter, von Beratung begleiteter Prozess – kombiniert mit der Erkenntnis, dass auch auf unserer Seite Fehler passieren können – ermöglicht es uns, die Qualität unserer Einstellungsentscheidungen deutlich zu steigern. So schaffen wir die Grundlage dafür, wirklich die besten Entscheidungen für unsere Teams und unser Unternehmen zu treffen.